Definition "Rhetorik"
Rhetorik
von Gert Ueding
(grch. rhêtoriké, lat. rhetorica), zusammenfassender Begriff für die Theorie und Praxis der menschlichen Beredsamkeit in allen öffentlichen und privaten Angelegenheiten, ob sie in mündlicher, schriftlicher oder durch die technischen Medien (Funk, Film, Fernsehen) vermittelter Form auftritt. Als wissenschaftliche Disziplin beschäftigt sich die Rhetorik mit der Analyse sprachlicher oder der Sprache analoger Kommunikation (körperliche Beredsamkeit), die wirkungsorientiert, also auf die Überzeugung des Adressaten hin ausgerichtet ist (persuasive Kommunikation). Sie ist eine Erfahrungswissenschaft, die auf kontrollierter und empirisch nachweisbarer Beobachtung rhetorischer Sprechakte beruht und die Geltung der aus ihr gewonnenen Erkenntnisse durch historische Rekonstruktion und die Bildung von Hypothesen über die Systematik und die Regeln rhetorischen Sprechens zu sichern versucht (Allgemeine Rhetorik). Rhetorik als praktische Sozialtechnologie (Angewandte Rhetorik) widmet sich der Ausbildung, Übung und Vervollkommnung wirkungsorientierten Sprechens und Verhaltens (Körpersprache, Gesprächshaltung) und benutzt dazu das historisch entstandene System der Regeln, Anleitungen und Gewohnheiten, die anwendungsbezogen von der Allgemeinen Rhetorik entwickelt und formuliert worden sind. Sie bedient sich dabei auch der Einsichten und Ergebnisse der Sprecherziehung und Sprechwissenschaft, die traditionell einen Teil der Rhetorik und der rhetorischen Erziehung darstellen und die mündliche Realisierung der Rede durch Sprechen sowie ihre mimische und gestische Darstellung zum Gegenstand haben.
Das System der Rhetorik ist in allen wesentlichen Zügen bereits in der Antike (Aristoteles, Cicero, Quintilian) entwickelt worden und in dieser Form bis heute Grundlage der Allgemeinen und der Angewandten Rhetorik. Die theoretischen Voraussetzungen fu▀en auf der anthropologischen Annahme der Redefähigkeit als einer allgemein menschlichen Naturanlage (natura), die durch Kunst und Wissen (ars, doctrina) sowie durch Erfahrung und Übung (exercitatio) vervollkommnet werden kann. Der rhetorische Unterricht besteht in der Aneignung des rhetorischen Wissens (doctrina), der Nachahmung exemplarischer Vorbilder (imitatio) mit dem Ziel, sie zu übertreffen (aemulatio), und der praktischen Einübung (declamatio). Die Produktionsstadien der Rede bilden das wichtigste systematische Einteilungsprinzip der Rhetorik. Am Anfang steht 1. die Erkenntnis des Themas, seine Zuordnung zu einer der drei klassischen Redegattungen, Gerichtsrede, Politische Rede, Festrede, und das Auffinden aller zur wirkungsvollen Behandlung des Gegenstands nötigen Argumente und Materialien (inventio). Zu deren Erforschung hat die Rhetorik ein eigenes System von Suchkategorien (Topik) ausgebildet, die personen- oder problembezogen alle möglichen Fundorte für Argumente, Beweise oder sonstige Belege erschlie▀en. Das 2. Arbeitsstadium regelt nach bestimmten Mustern die Gliederung des Stoffes (dispositio) unter den leitenden Aspekten der Sachangemessenheit, der Überzeugungsherstellung beim Hörer/Leser und der vier Redeteile. Diese bestehen aus Einleitung (exordium), Darlegung des Sachverhalts (narratio), Argumentation und Beweisführung (argumentatio), schlie▀lich dem Redeschlu▀ (conclusio, peroratio). Das 3. Arbeitsstadium umfa▀t die sprachlich-stilistische Produktion der Rede gemä▀ der Theorie des rednerischen Ausdrucks (elocutio), die das differenzierteste Teilgebiet der Rhetorik ausmacht. Es umfa▀t die Figuren und Tropen sowie den Wortgebrauch und die Satzfügung, soweit diese nicht grammatischen, sondern stilistisch-rhetorischen Zwecken dienen. Sprachrichtigkeit, Deutlichkeit, Angemessenheit an Inhalt und Zweck der Rede, Redeschmuck und Vermeidung alles Überflüssigen sind die obersten Stilqualitäten. Um allen Wirkungsintentionen zu entsprechen, hat die Rhetorik zum Teil sehr komplizierte Stillehren entwickelt, doch allein die wohl auf Theophrast zurückgehende Dreistillehre hat sich durchgesetzt und beherrschte die Geschichte der europäischen Beredsamkeit und Literatur bis ins 19. Jh. Sie unterscheidet die schlichte, schmucklose, sowohl dem belehrenden Zweck wie der alltäglichen Kommunikation angepa▀te Redeweise von einer auf Unterhaltung und Gewinnung der Zuhörer ausgerichteten Stilart, die sich des Redeschmucks auf eine temperierte Weise bedient und eine sympathische Beziehung zwischen Redner und Publikum herstellen soll; von diesen beiden abgesetzt wird schlie▀lich die gro▀artige, pathetisch-erhabene Ausdrucksweise, die alle rhetorischen Register zieht und die Zuhörer mitrei▀en will. Sie ist besonders handlungsbezogen und zielt auf Entscheidung und praktische Veränderung aufgrund der zuvor durch Darlegung und Argumentation erreichten Einstellungsveränderung oder -sicherung. Im 4. Stadium konzentriert sich der Redner auf das Einprägen der Rede ins Gedächtnis (memoria) mittels mnemotechnischer Regeln und bildlicher Vorstellungshilfen. Das 5. und letzte Produktionsstadium besteht in der Verwirklichung der Rede durch Vortrag (pronuntiatio), Mimik, Gestik und sogar Handlungen (actio). Diesen Anforderungen entsprechend entwickelte die Rhetorik eine ausgefeilte Sprechtechnik, die körperliche Beredsamkeit und in neuerer Zeit die Rhetorik der Präsentation, deren besondere Aufgabe die wirkungsbezogene Vorführung von Gegenständen und die Gestaltung des gesamten Ambientes der Rede ist. In Dekoration, Design und moderner Verkaufsrhetorik hat die Rhetorik der Präsentation heute ihre wichtigsten Anwendungsbereiche. In diesem letzten rhetorischen Arbeitsstadium liegt auch der Ursprungsort der Schauspieler- und Theatertheorien sowie der "gesellschaftlichen Beredsamkeit", wie A. v. Knigge seine Kunst des "Umgangs mit Menschen" nannte.Geschichte
Geschichte
Die Rhetorik ist im 5. Jh. v. Chr. nach der Beseitigung der Tyrannenherrschaft in Syrakus und Athen entstanden, als Interessengegensätze auf ökonomischem, politischem und rechtlichem Gebiet öffentlich ausgetragen werden konnten. Ihre erste Blüte erlebte sie in der sophistischen Aufklärung (Protagoras, Georgias), die die Sprache endgültig aus dem mythischen Denken befreite und die menschliche Rede zu einem rational brauchbaren und universell einsetzbaren Instrument des gesellschaftlichen Lebens machte. In Platon, dessen Zerrbild der Sophistik bis heute nachwirkt, erwuchs der Rhetorik ein wirkungsmächtiger Gegner, der sie als "Überredung", "Scheinkunst" und "Schmeichelei" kritisierte und zur Wahrheitserkenntnis für untauglich erklärte. Ihre Rehabilitierung kam von dem Platon-Schüler Aristoteles, der mit seiner "Rhetorik" das bis heute folgenreichste Lehrbuch einer rhetorischen Argumentationstheorie schrieb und ihre Aufgabe darin bestimmte, "nicht ... zu überreden, sondern zu untersuchen, was an jeder Sache Glaubwürdiges vorhanden ist." Au▀erdem wurde von Aristoteles die Rhetorik als gleichberechtigtes Gegenstück zur philosophischen Dialektik behandelt, da beide es mit dem Ungewissen zu tun haben und durch ihre Fähigkeit, "über Entgegengesetztes Schlüsse zu bilden", strittige Sachverhalte im Für und Wider der Argumente zur Entscheidung bringen können. Von den römischen Rednern und Redetheoretikern wurde die Rhetorik dann endgültig zu dem neben der Philosophie wirkungsmächtigsten Bildungssystem der europäischen Geschichte ausgeführt. Während die nur anonym überlieferte "Rhetorik an Herennius", das älteste erhaltene Lehrbuch in lateinischer Sprache, allein die Produktionsstadien und Hauptgattungen der Rede behandelt, legte Cicero in seinen rhetorischen Lehrschriften (De oratore, Orator, Brutus) die Grundlage für ein umfassendes Lehrgebäude, in dem Erziehung, Politik, Recht, Gesellschaftstheorie und Ethik zusammengeführt wurden. Sein Ideal des "perfectus orator", der die Redekunst auf der Grundlage einer umfassenden Allgemeinbildung mit moralischem Verantwortungsbewu▀tsein ausübt (ein "vir bonus", ein guter Mensch, sein soll), wurde auch von Quintilian in das Zentrum seiner Rhetorik gestellt. Sein umfangreiches Lehrbuch "Die Ausbildung des Redners" (De institutione oratoria), ein Kompendium, das die Rhetorik als regina artis, als Königin aller Künste und Wissenschaften, inthronisierte, avancierte zum ma▀gebenden Standardwerk der europäischen Rhetorik Das christliche Mittelalter rezipierte die Rhetorik nach anfänglichem Zögern (bahnbrechend: Augustinus' "De doctrina christiana") und eignete sich das rhetorische Wissen für die Bibelauslegung und Predigtlehre an, womit den bisherigen drei klassischen eine weitere Redegattung hinzugefügt und mit der Homiletik ein neuer rhetorischer Theoriebereich geschaffen wurde. In den Schulen wurden die sieben freien Künste gelehrt, wobei der Rhetorik neben Grammatik und Dialektik grundlegende Bedeutung zukam. Renaissance und Humanismus brachten der Rhetorik neue Höhepunkte an Geltung und Machtausbreitung, die Philosophie ging zeitweise in ihr auf, sie beherrschte Schul- und Universitätsbetrieb, Literatur und Architektur, Hof- und Gerichtswesen, gesellschaftliches Leben, Kirche und Theologie; der historische und philologische Sinn und die allgemeine Verweltlichung der Wissenschaften und des Lebens waren unmittelbare Folgen der neuen Rhetorik-Rezeption, die dann auch in die höfische Kultur aufgenommen wurde und das barocke Zeitalter besonders hinsichtlich seiner Schmuck- und Prachtentfaltung geprägt hat. Die Aufklärung des 18. Jh.s brachte die Nationalisierung der bisher lateinischsprachigen Rhetorik in allen europäischen Ländern. Es entstand eine Fülle neuer muttersprachlicher Lehrbücher, auch die Terminologie veränderte sich, in Deutschland z. B. festigte sich der Sprachgebrauch "Beredsamkeit" (oder" Eloquenz") für die Praxis und "Redekunst" (oder "Rhetorik") für die Theorie der Rede. Anknüpfend an die antiken Briefautoren (Plinius) und die humanische ars dictandi (Briefkunst) weiterführend, etablierte sich der Brief als eigenständige rhetorische Gattung und der "Briefsteller" (Gellert) als ihre Theorie. Auch die Poetik, seit der Antike (Horaz) zur rhetorischen Domäne gehörend, blieb weiter unter dem Einflu▀ der Rhetorik (Pope, Boileau, Gottsched). Eine neue politische Dimension gewann die Rhetorik bei der Vorbereitung und nach dem Ausbruch der Französischen Revolution, direkt als politische Beredsamkeit oder durch die Entwicklung einer kritischen bürgerlichen Publizistik. Mit dem Ende des Jh.s begann aber auch der Verfall der Rhetorik als Folge komplizierter, bis heute nicht ganz erhellter Vorgänge wie der politisch restaurativen Entwicklung, der Entstehung neuer konkurrierender Wissenschaften (Ästhetik, Psychologie, Germanistik, Pädagogik) und einer allgemeinen Kultur der Innerlichkeit. Einzelne Gegenstimmen wie die Nietzsches änderten daran nichts.
Gegenwart
Der Niedergang der Rhetorik als wissenschaftliche Disziplin (als Redepraxis blieb sie erhalten) ist in allen Nationalkulturen seit den 30er Jahren des 19. Jh.s zu verzeichnen, zeigte aber in keiner so durchschlagende und anhaltende Wirkung wie in Deutschland, wo der Anschlu▀ an eine seit Beginn des 20. Jh.s besonders in den USA einsetzende, inzwischen lebhafte internationale Forschung erst seit etwa 1960 gelungen ist. Der wachsende Anspruch einer mündigen Gesellschaft auf Information und die Durchsichtigkeit aller Entscheidungsprozesse erzeugte einen zunehmenden Bedarf an Rhetorik in sämtlichen Bereichen der Wissenschaft. Dabei gerät die Vielfalt der Rezeptionen schon wieder in Gefahr, unübersichtlich zu werden, doch lassen sich deutlich fünf Tendenzen unterscheiden. Die literaturwissenschaftliche Adaption der historischen Topik (Curtius), der rhetorischen Textinterpretation (Lausberg) und der Figurenlehre (Dubois, Plett); die Wiederbelebung der rhetorischen Argumentationstheorie in der Jurisprudenz (Viehweg, Haft) und Philosophie (Perelman, M. Meyer) sowie in der hermeneutischen Diskussion (Gadamer, Habermas, Blumenberg); die Entwicklung einer Rhetorik der Massenmedien und der Werbung mit psychologischem Schwerpunkt ("New Rhetoric" in den USA); Wiederherstellung der traditionell fächerübergreifenden Konzeption der Rhetorik in ihrem umfassenden Verständnis als Bildungssystem wie auch gleichzeitig als Theorie wirkungsbezogener menschlicher Kommunikation, die in der Angewandten Rhetorik ihre Praxis findet ("Tübinger Rhetorik"); schlie▀lich das breite Feld der Populär-Rhetorik, z. B. Verkäuferschulung, Manager-Training, die meist auf niedrigem wissenschaftlichem Niveau rhetorische Sozialtechnologie betreiben.
olaf.kramer@uni-tuebingen.de(olaf.kramer@uni-tuebingen.de)
Stand: 15. 4. 1996